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Matriarchale Landschaftsmythologie – Ein kulturhistorischer Blick

In Europa herrschte in der der kulturhistorischen Epoche der Jungsteinzeit ein Matriarchat. Das Weltbild der Menschen jener Zeit unterscheidet sich im Wesentlichen darin, dass für sie die Natur mit Kräften durchdrungen war. Sie sahen die Natur als ein göttliches Wesen, eine Urgöttin, worauf unser heutiger Ausdruck „Mutter Erde“ noch hinweist.
Die Matriarchatsforscherin Dr. Heide Göttner-Abendroth hat viele Landschaften in Deutschland und den Alpenländern kulturhistorisch erforscht. Dabei verbindet sie die symbolische Betrachtung einer Landschaft mit lokaler Archäologie, Mythologie, Volkskunde und Sprachforschung und entschlüsselt so Landschaften in ihrer alten Bedeutung.

Ein Interview mit der Matriarchatsforscherin Heide Göttner-Abendroth von Hilda Müller

Was verstehen Sie unter matriarchaler Landschaftsmythologie?

Heide Göttner-Abendroth: Wir beginnen so zu schauen, wie die ersten Siedler und die ersten Wanderer in diesen Gegenden die Landschaft gesehen haben. Das bezieht sich auf die jungsteinzeitliche Epoche mit den ersten Bauern, Siedlern und Hirten, die auf den Höhenlagen unterwegs waren.

In der Jungsteinzeit hatten die Menschen ein Weltbild, das wir heute nicht mehr haben, das für sie von Kräften in der Natur durchdrungen ist. Insbesondere ehrten sie die Weiblichkeit der Erde als ein göttliches Wesen, als eine Urgöttin, worauf unser heutiger Ausdruck „Mutter Erde“ noch hinweist.

Immer da, wo sie Landschaftszüge sahen, die die Weiblichkeit der Erde ausdrückten, wo sie beispielsweise Busenberge oder Schoßtäler sahen, waren das für sie besondere Plätze, die sie dann mit der Weiblichkeit der Mutter Erde in Verbindung brachten. Das waren für sie heilige Plätze, an denen sie manchmal Steinsetzungen oder Steinritzungen schufen und von dort aus die Landschaft verehrten.

Das ist eine matriarchale Haltung, weil man nicht irgendwie einen transzendenten Gott suchte, sondern die Erde und der Himmel, so wie sie sind, als göttlich betrachtete. Das gehört zu den matriarchalen Kulturen der frühen Jungsteinzeit.

Zur Landschaft kommt dann die Mythologie hinzu, denn man muss die lokalen Sagen mit in Betracht ziehen. Viele Berge sind zum Beispiel verbunden mit weißen Frauen oder sogar drei Frauen oder tragen Namen, die auf mythologische Wurzeln zurückgehen, die auch aus der Jungsteinzeit stammen. Die Göttinnensagen oder Sagen der heiligen Frauen und der Saligen haben alle sehr alte Wurzeln und wenn man sie in einer bestimmten Landschaft konzentriert in Sagen findet, kann man das Weltbild und den Blick der frühen Siedler am allerbesten erschließen. Darum Landschaften und Mythologie, darum matriarchale Landschaftsmythologie.

Matriarchat in der Jungsteinzeit

Sie beziehen sich in ihrer Matriarchatsforschung immer auf die kulturhistorische Epoche der Jungsteinzeit. Herrschte damals ein Matriarchat?

H. G.-A.: Aller Wahrscheinlichkeit müssen wir davon ausgehen. Das zeigen auch die Zeugnisse der Archäologin Marija Gimbutas, dass die jungsteinzeitliche Epoche in Europa matriarchal war.

Dazu muss man wissen, was matriarchal heißt. Es bedeutet nicht, dass Frauen geherrscht haben, sondern die matriarchalen Gesellschaften waren egalitär. Sie beruhten auf einem Ausgleich und gegenseitiger Kooperation, und die Politik beruhte auf Konsens. Das heißt, da konnte niemand – kein Geschlecht, keine Klasse oder Gruppe – über das andere Geschlecht herrschen. In den Sippen waren die Ältesten in der Mutterlinie organisiert, also die Großmütter und deren weibliche Nachkommen.

Dieses Wissen habe ich nicht nur aus der Archäologie allein, sondern ich habe ja heute noch lebende matriarchale Gesellschaften in den Kontinenten Afrika, Asien und Amerika erforscht. Und da sieht man genau diese Muster der Gleichwertigkeit beider Geschlechter. Diese Konsenskultur wird in jeder dieser noch lebenden matriarchalen Gesellschaften gelebt!

Mit diesem Wissen habe ich mir dann die frühe Epoche noch einmal genauer angeschaut, auch unterstützt durch die archäologische Forschung von Marija Gimbutas in Südosteuropa, die diese Epoche „matristisch“ nennt. Sie meint damit genau dasselbe, nämlich egalitäre Gesellschaften, die auf mütterlichen Werten beruhen. Nach meinen Erkenntnissen und neuerer Archäologie gilt das aber für ganz Europa und auch noch für viele Areale auf der Welt und zwar speziell für die neolithische Epoche, in der die ersten Bauern siedelten, also die Feldarbeit entstanden ist. Es waren Frauen, die die Gärten und die Felder bewirtschaften und im Grunde den Getreideanbau erfunden und entwickelt haben. Das hat ihnen natürlich eine wichtige Rolle gegeben. Die Männer blieben bei Jagen, Handeln oder den Bau von Megalithanlagen, die auch zu dieser Kultur gehören. Und so wirkten beide Geschlechter zusammen.

Busenberge und Schoßtäler

Wie sehr wurde das matriarchale Weltbild damals von den Landschaften geprägt?

H. G.-A.: Sie meinten grundsätzlich ist für sie Mutter Erde ein göttliches Wesen, denn sie ist die Mutter von allem Leben auf ihr. Im Grunde prägte ihr Weltbild ein symbolisches Sehen der Landschaft. Sie sahen die Landschaft symbolisch, beispielsweise, wenn es zwei Hügel gibt, die gleich geformt sind, dann waren das für sie die Brüste der Mutter Erde.

Mit diesem Blick konnte ich das auch hier in Mitteleuropa entdecken. In meiner Nähe, im Bayerischen Wald, haben wir den Osser, einen Berg mit Doppelgipfel, der aussieht wie zwei Brüste. Die Tschechen sagen noch „Die Brüste der Jungfrau Maria“ dazu, wobei die Jungfrau Maria später draufgesetzt wurde, die auch dieser Vorstellung von Mutter Erde als einer Göttin entspricht.

Für die Menschen war es natürlich sehr gut, genau dort zu siedeln, denn es waren für sie heilige Plätze und sie waren der Auffassung, dass die Mutter Erde sie dort besonders beschützt.

Ein anderes Beispiel für das allgemeine Denken dieser frühen Epoche, wie man eine Landschaft symbolisch sehen kann, sind Schoßtäler. Beispielsweise bei einem Tal, das fast kreisrund oder oval ist, aus dem Quellen entspringen oder ein Fluss hervorkommt, dann war das für sie der Schoss der Mutter Erde. Auch das ist eine weibliche Körperanalogie. Sie sahen darin einen heiligen Ort und haben auch dort gesiedelt.

Es gibt heute noch Plätze, die genau das ausdrücken, die aber später christlich geprägt und vor allem mit Marien Wallfahrtskirchen überbaut wurden. Bei der christlichen Missionierung wurden Jungfrau Maria oder christliche Heilige oft auf diese als heidnisch geltenden Plätze gesetzt, weil sie bis zur christlichen Missionierung verehrt wurden und dort eben auch ihre Kultstätten hatten. So kann man das eben heute noch entdecken und sich in gewisser Weise erschließen.

Marienanbetung – eine matriarchale Haltung?

Ist die Marienanbetung, die im Alpenraum besonders stark verbreitet ist, auf ein matriarchales Weltbild zurückzuführen?

H. G.-A.: Das hat mit der matriarchalen Zeit nur indirekt zu tun, weil die christliche Missionierung sich diesen Vorstellungen gegenüber fand, dass die Landschaft heilig ist. Die Menschen hatten heilige Plätze, die sie bis lange in die patriarchalen Zeiten hinein verehrten. Die bäuerliche Bevölkerung hat nicht davon abgelassen, sodass das Christentum, das in den ersten Jahrhunderten ohne weibliche Heiligung als sehr stark männlich geprägte Religion begann, ohne Erfolg war.

Im Hochmittelalter wollte man diese alten sakralen Plätze, die nach wie vor verehrt wurden, christianisieren. Dazu wurde der Kult der Jungfrau Maria sehr stark entwickelt und all diese Plätze wurden überwiegend mit Marienkapellen, Marienkirchen, Marienwallfahrtskirchen und so weiter besetzt.

Im Grunde war das der zweite Schritt der Missionierung, um das Volk von der Verehrung der Landschaft und dieser alten heiligen Plätze abzubringen, die sie zu Ehren der Erdgöttin oder anderer Göttinnen gewidmet hatten. Diese Verehrung galt als heidnisch und man überdeckte sie mit christlicher Symbolik.

Das heißt, direkt matriarchal ist die Marienanbetung nicht, sondern es ist eine Vereinnahmung seitens patriarchaler Vorstellungen. Aber da dieser Göttinnenglaube so stark war, musste man eine weibliche christliche Gestalt verstärkt fördern oder erfinden. Dadurch ist der Marienkult im elften und zwölften Jahrhundert sehr stark gefördert worden, was sich auch in zahlreichen Überlieferungen zeigt.

Mit diesem Wissen können wir heute darauf rückschließen, dass es einmal alte heilige Plätze waren. Betrachtet man noch die umgebende Landschaft, dann fallen einem meistens die Schuppen von den Augen, weil man die Symbolik darin erkennt.

Alte Kultplätze entziffern

Sie haben sich in Ihrer Forschung sehr ausgiebig mit der Entschlüsselung von alten Kultplätzen und ihrer Bedeutung in der Landschaft befasst. Wie kann man diese alten Kultplätze wieder entziffern?

H. G.-A.: Dazu muss man das matriarchale Weltbild sehr gut kennen und darüber hinaus die europäische Mythologie und zwar in ihrer ältesten Schicht.

Ein Beispiel ist die Frau Holle, die in Mitteleuropa die bedeutendste Göttin war. Wir finden sie unter verschiedenen Namen von Norddeutschland bis in die Alpen hinein.

Durch viele Mythen und Sagen wissen wir beispielsweise, dass der Hohe Meißner in Hessen der Heilige Berg der Frau Holle war, weil dort fast in jedem Dorf eine Holle-Sage zu finden ist. Auf dem Hohen Meißner gibt es einen schönen kreisrunden Teich, an einer Basaltwand gelegen, der heute noch Frau-Holle-Teich heißt. Man kann sich also vorstellen, dass dieser Teich in dieser frühen Epoche bei der Verehrung von Frau Holle als Göttin eine Rolle gespielt hat.

In der Mythologie heißt es, dass in diesem Teich die kleinen Seelchen also die Seelen der Ungeborenen schwimmen oder wohnen, die manchmal von Frau Holle mit dem Storch zu den Frauen geschickt wurden, die schwanger werden wollten.

Dazu gab es einen alten Brauch, den es heute nicht mehr gibt, in dem die jungen Frauen, die schwanger werden wollten, zu bestimmten Zeiten im Frau-Holle-Teich badeten, um ein Seelchen zu empfangen. Diese Seelchen sind nicht irgendwelche Seelen, sondern es sind die Ahnen-Seelen des eigenen Clans.

Im Grunde ist ein Seelen-Teich ein tiefer Mutterschoß in der Erde, in dem die Seelen oder Ahnen wohnen.

Manchmal wohnen die Ahnen auch in Steinen mit besonderen Formen wie beispielsweise diese Rutschsteine, auf denen die jungen Frauen hinunterrutschen und glaubten, dass sie dabei ein Ahnenseelchen empfangen.

Dieser Seelchen-Glaube war in ganz Mitteleuropa weit verbreitet, weil die jungsteinzeitlichen Menschen glaubten, dass die Ahnen in der Tiefe wohnen und von dort durch die jungen Frauen desselben Clans wiedergeboren werden können. Diese Wiedergeburtsreligion ist eine sehr alte matriarchale Religionsform. Aus diesem Grund galten Frauen damals nicht nur als gebärfähig, sondern sie waren diejenigen, die die Ahnen wiedergebären konnten, was den Frauen in diesen Kulturen auch eine besondere sakrale Bedeutung gab.

Im Matriarchat ist es undenkbar, die Erde zu verletzen

Dieses matriarchale Weltbild, in der die Natur als heilig galt, mit der man sorgsam umgeht, wäre für unsere heutige Zeit hilfreich, in der wir unsere Natur zerstören, das von der patriarchalen Haltung herrührt. Wie sehen Sie das?

H. G.-A.: Ja, das ist ein wesentlicher Kern meiner Arbeit, den Sie jetzt genannt haben. Wir leben hier in Europa seit der Eisenzeit, also seit circa 4 000 Jahren flächendeckend im Patriarchat. Patriarchale Gesellschaften begannen mit Krieg und Eroberung, beruhen auf Macht, sind hierarchisch aufgebaut und gründen auf die Ausnutzung anderer Völker, die erobert werden, um die Machtpyramide immer höher zu bauen.

Ein weiteres Beispiel ist die Mutterschaft und die mütterliche Arbeit, die heute nichts mehr wert ist. Sie wird überhaupt nicht gewürdigt. Dabei ist sie die wichtigste Funktion in jeder Gesellschaft, denn durch sie kommt die nächste Generation.

In manchen Enklaven gibt es heute noch lebende matriarchale Gesellschaften. Die Gesellschaftsform, die Lebensweise des Matriarchats ist so anders und hat überhaupt nichts mit Herrschaft zu tun, denn sie sind herrschaftsfrei. Sie könnten für uns ein Aha-Erlebnis sein, weil sie uns zeigen, dass auch andere Formen der Lebensweise möglich sind, als nur das Patriarchat, in dem wir alle hängen.

Der andere Aspekt ist der Respekt gegenüber den mütterlichen Fähigkeiten der Erde. Unter mütterliche Fähigkeiten verstehen matriarchale Menschen das Schöpferische, das Leben schaffen wird. Die Erde tut das ununterbrochen. In jedem Frühling bricht in schönster Weise das Leben überall hervor. Ich bin manchmal so erstaunt und berührt, dass sie es trotz aller Verletzungen jedes Jahr noch kann.

Im Matriarchat ist es undenkbar, die Natur zu verletzten, denn gerade diese Lebensschöpfende Kraft der Erde wurde verehrt. Die Erde war eben göttlich, weil sie das Leben hervorbringen kann und auch erhält.

Natürlich haben die Menschen auch von den Früchten der Erde und auch von den Tieren gelebt. Aber man hat dafür gedankt, man hat nie mehr genommen als man brauchte und hat dafür gesorgt, dass der Kreislauf der Regeneration für die Erde erhalten blieb. Darum ist es ja so erstaunlich, dass matriarchale Gesellschaften über Jahrtausende am gleichen Ort leben können, ohne Zerstörung oder Ausbeutung der Böden und der Natur. Das hat damit zu tun, dass sie die Erde als heilig betrachten und immer bedacht sind, die Balance zwischen den Menschen und ihrer natürlichen Umwelt zu bewahren. Das können indigene Völker heute noch. Die patriarchalen Menschen könnten heute sehr viel daraus lernen.

Ich danke Ihnen vielmals für das Gespräch!

Dieses Interview ist in der raum&zeit 242/2022 erschienen.